Der Buchbinder

Cousine Heike hat das Wochenende bei uns verbracht und meine Übersetzung von Branalds „Severní nádraží“ korrekturgelesen. Zum Abschluss zeige ich ihr ein kostbares, aber altersbedingt reparaturbedürftiges Buch aus dem Jahre 1875: „Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche“. Heike kennt jemanden, der jemanden kennt…. Und nimmt das Buch mit nach Dresden. Zurück kommt heute dieser, von ihr verfasster genialer Text und die Zusicherung des Buchbinders: „Das Buch ist vor dem Sommer fertig!“

Der Buchbinder

Ich betrete einen Laden, der nicht nach Kleister riecht und völlig chaotisch wirkt. Ich stehe mit einem kleinen Buch wie ein Bittsteller, der darauf hofft, dass aus dem Kleinod wieder ein Kleinod wird. Der Buchbinder blättert. Er fragt, was das denn eigentlich sei. Er kann kein Sütterlin lesen. Ich sage, dass es ein Kochbuch ist und werde leicht unruhig. Er betastet den Umschlag. Die dünnen Seiten rascheln. Er erklärt mir mit stoischer Ruhe, was er zu tun gedenkt. Auf alle Fälle wird er nichts am Inhalt verändern, die fleckigen Seiten werden bleiben. Der Buchbinder sagt, dass so der Reiz des Buches erhalten bleibt. Er zeichnet den Umriss mit einfachen Strichen. Er hat einen Plan. Der Einband wird braun und grün. Die Ecken werden sich abheben. Der Buchbinder hat sich jetzt schon in das Buch verliebt.

Wir schließen einen Vertrag, der auf einem A5-Block mit Durchschlag besiegelt wird. Ich hinterlasse außer meiner Telefonnummer nur das Buch. Die Frage nach einer Anzahlung wird beantwortet: „Das nimmt nur die Motivation.“ So ist er, der Buchbinder. Wortkarg, sympathisch, wissend. Ein guter Mann. Er wird ein großes Werk vollbringen, er wird binden, nähen, vielleicht auch kleben. Man wird später beim Blättern vielleicht an ihn denken.

Er war der Buchbinder.

Das geheime Leben der Dinge

Beim Aufräumen fand ich heute eine kleine Geschichte. Wir hatten im Rahmen von „Pirna schreibt“ die Aufgabe bekommen, uns in einen einen Gegenstand hinein zu versetzen - die anderen Kursteilnehmer sollten erraten, was wir beschreiben. Für euch bekommt meine Geschichte einen Titel:

Der Grenzstein

Seit Menschengedenken steht er am Wegrand und beobachtet alles. ALLES! 

Den Weg vor ihm — einst ein Trampelpfad, später ausgebaut für klapprige Karren, die von Vierfüßlern vorbeigezogen wurden. In jüngerer Zeit sind sogar stinkende und sehr schnelle Karren auf zwei oder vier Rädern vorbeigekommen. 

Die Wiese hinter ihm, die im Frühjahr zaghaft zum Leben erwacht und im Sommer mit üppigen Blüten verzaubert. Bis zweibeinige Wesen jäh den Zauber beenden. Mit Geräten — laut können die sein, sehr laut oder auch leise, friedlich mit rhythmischem Geräusch. Ihn dauerte jedes Mal, wie die grünen Hälmchen und bunten Blumen hingerichtet wurden, bis sie welk und vertrocknet am Boden lagen. Hatten sie doch kurz zuvor noch stolz und aufrecht gestanden und sich vom warmen Sommerwind hin und her wiegen lassen.

Lange Jahre steht er nun schon so friedlich und ruhig hier. Ein Pol im bewegten Leben. Er liebt dieses Dasein. Diese Ruhe — den Frieden. Einmal nur, ungern denkt er daran, hat man ihm unsägliche Schmerzen zugefügt. Mit zwei eisernen Gerätschaften hat irgendjemand sein edles steinernes  Antlitz bearbeitet und zum Abschluss der Tortur selbstgefällig vor sich hingemurmelt: „Gut geworden, die Krone!“

Wieder ging Jahr um Jahr ins Land. Viele Sommersonnen wärmten seinen steinernen Leib. Im Winter bedeckte ihn kalter Schnee. Auch die geschorene Wiese in seinem Rücken war einfach nur noch weiß. 

Die Fahrzeuge vor ihm auf dem inzwischen asphaltierten Weg wurden größer. Und schneller und breiter. Bald waren sie sogar breiter als der Weg. Er störte. Er war im Weg. Der, der seinen Platz seit Menschengedenken genau hier hatte. Eines Tages rollte ein riesiges Ungeheuer heran, frass sich in die Erde unter ihm und warf ihn mitsamt dieser auf die gerade aus dem Winterschlaf erwachende Wiese. Da lag er nun. Nackt und bloß im noch frostigen Frühjahr. 

Nur wenig später — das grausame Ungeheuer war längst abgefahren — kam auf dem nun recht breiten Weg ein zweibeiniges Wesen gelaufen und sah ihn da liegen in all seinem Schmerz und Verzweiflung. Es sagte irgendetwas. Hatte eine wohltuende warme Stimme. Schade, es ging wieder fort. Wieder ist es still, kalt, ohne Hoffnung. Die Wiese spendet keinen Trost, ist schneeweißes eisiges Bett für den Geschundenen.  

Bald kam wieder ein Fahrzeug angerollt. Es hatte nur ein einziges Rad. Das Wesen mit der schönen Stimme schob das Fahrzeug. Es hatte vier Beine bekommen. Oder waren es zwei Wesen mit je zwei Beinen?

Egal, sie luden den steinernen Gesellen auf den Karren und gruben ihn einfach wieder ein. An einem anderen Platz. Einem Platz inmitten von Rosen und bunten Blumen. Hier wird es ihm gefallen.

Kriegsbeginn in Prag

Ich habe wieder einen kleinen Abschnitt aus Adolf Branalds „Severní nádraží“ geschafft und möchte euch noch ein bissel neugieriger machen auf die endgültige Fertigstellung meiner Übersetzung; die kursiv eingesetzten Textteile habe ich zur Erläuterung eingefügt, sie werden wohl später in der fertigen Übersetzung als Fussnoten erscheinen.

Ihr erinnert euch: Branald hatte Ende der 1930er Jahre eine Ausbildung bei der tschechischen Bahn zum Fahrdienstleiter gemacht und war 1938 am Grenzbahnhof Moldava eingesetzt. Inzwischen ist er in seine Heimatstadt Prag – an den heutigen Masaryk-Bahnhof – umgesetzt worden und schreibt über das Jahr 1939:

„Der Bahnhof ist ein Barometer für die gesamte Situation. Anfang neununddreißig kommt es zu Aktionen, die kurz vor dem fünfzehnten März ihren Höhepunkt erreichen. An den Schaltern stehen lange Schlangen von Menschen mit Rucksäcken und Koffern. Die jüdische religiöse Gemeinde organisiert Transporte, um die sich der krummbeinige Herr Melion kümmert, mit Ziel in London Victoria Station, Hoek van Holland, Stockholm, aber auch Harbin und Wladiwostok — und wer weiß, wohin noch. Nach dem fünfzehnten März kommen nur noch Einzelne — nach Budapest keleti, Belgrad Hauptbahnhof, es werden neue Kanäle gesucht, und die Strecken werden kürzer. Nach Bylnice nad Vlárou kann man noch im Lokführer-Stand fahren. Nach Vsetín muss der Flüchtling im Tender unter der Kohle ausharren. (Bylnice nad Vlárou ist eine Eisenbahnkreuzung fast direkt an der tschechisch-slowakischen Grenze. Und aus Bylnice führt eine Regionalbahn nach Vsetín.) Der erste September markiert offiziell den Beginn des Krieges, seitdem bleibt nur noch die Kohle.

Auf geht’s — erste Lektion in deutscher Sprache. Auch für Brandeisl, Libuschin, Srutsch, wir begreifen schnell und finden besonderes Vergnügen an Mesimost-Naser. (Es geht um den heutigen Stadtteil von Veselí nad Lužnicí, der bis 1943 Mezimostí nad Nežárkou hieß, auf deutsch Mesimost an der Naser. Nach der Okkupation hat man in der germanisierten Bahn den Namen Mesimost Naser benutzt. Und wenn man Mesimost Naser „tschechisch“ liest, heißt es: „Scheiße zwischen die Brücken!“ (Mezi most[y]naser). Wir erhalten auch einen neuen Namen, Hibernerbahnhof, benannt nach den irischen Franziskanern, weltweit einmalig. Ab Oktober werden die Stationen auf Deutsch aufgerufen. Ab November wird nach deutschen Vorschriften gefahren, die Besatzer richten sich dauerhaft ein, wer die Deutschprüfungen nicht besteht, muss in die Ecke und aufschreiben, ob der Bahnsteig beleuchtet war und ob der Stationsname für den Zug auf dem dritten Geleise angesagt wurde. Es ist keinen Spaß mehr wie bei Libuschin und Brandeisl — nein, die Zivilisten werden diesem Krieg nicht entkommen. Vor dem vergitterten Fenster des Schalters steht von früh bis spät eine Schlange, alles Frauen, die einen Paketschein auf die schwarze Marmorplatte legen und dem ernsten Wiegemeister schwere Pakete nach Buchenwald, Auschwitz oder Mauthausen hinüberreichen.  Der totale Krieg ist immer gleich, jede Nacht brennen neue Städte, wir erfahren davon durch Transportverbote. Seltsam ist, dass wir uns darüber freuen, zugleich aber traurig sind, schließlich wir können ihnen doch nicht sagen, dass sie in der Nacht Kiel bombardiert haben, Fünftausend Pakete sind es heute, fast genauso viele waren es gestern, das ist schon die Hälfte der Nation.

Kurz vor der Abfahrt des nächtlichen Schnellzuges kommt eine tschechische Mutter: „Herr Kassierer, bitte, können sie das zur (Zug-Nr.) hundertsiebenundvierzig geben, mein Junge wird in Berlin am Zug warten.“ Sie legt ein rundes Päckchen in fettigem Papier auf die Waage, auch der Eilzettel ist etwas fettig — „Was haben sie da, Mutter, dass es ihnen so wichtig ist?“ „Kartoffelknödel mit Zwiebeln, er mag sie so.“ Lojza lacht an der Waage. Lojza Filipovský wird jedoch ernst und fragt durch das Fenster: „Soll ich das in Rot mit Blitz machen? Rot mit Blitz ist Eil- und dringende Wehrmachtsware.“ Es macht ihm Spaß, er zwinkert der Mutter zu und nimmt das Päckchen. Sie schaut ihm nach, während er zum Schnellzug geht und das Päckchen dem Zugführer übergibt; bei Wehrmachtsware hätte er das nie getan. Alle drei, vielleicht auch der Zugführer, sehen wir den Jungen, wie er um acht Uhr dreizehn auf dem Anhalter (Bahnhof in Berlin) wartet, der Topf für ihn ist bestimmt noch lauwarm. (Heute klingt das einfach wie eine rührende Geschichte, und ich schäme mich fast dafür. Ich weiß auch nicht, warum mir bei der Erinnerung an den Krieg zuerst diese Szene einfällt, es gab ja wirklich ernstere Dinge. Vielleicht ist es, weil auch Mütter ihren Krieg hatten. Die Frau mit den Kartoffelknödeln hatte es nicht am schlimmsten erwischt, ihr Junge wartete um acht Uhr dreizehn auf dem Anhalter — obwohl: wer weiß, ob er wirklich wartete und wie es mit ihm ausging — wahrscheinlich deshalb sind Erinnerungen mit unklarem Ausgang am intensivsten. Ungewissheit ist in jedem Krieg vor allem das Schicksal der Mütter.)

Nach dem Fall Frankreichs wird das Tragen von Taschenmessern im Dienst verboten. Das verhindert nicht, dass Lieferungen von Kriegsmaterial statt nach Frankfurt am Main nach Frankfurt an der Oder gehen. Ein Küstengeschütz, auf speziellen Waggons von Frankreich an die Ostfront transportiert, pendelt fast drei Monate durch Böhmen und Mähren und verschwindet schließlich spurlos. Nicht alles erfordert ein Messer.

Sie führten viele Leute ab, immer wieder verschwindet jemand, sie richteten Robovský und den Kassierer Šedivý hin, und sie waren wegen Tomáš, Sedlák und Janoušek da. Morgens treten wir zum Dienst an und schauen uns um. Wenn wieder jemand fehlt, brechen wir für ihn das Schloss auf und zerstören völlig belanglose Dinge. Alle packt die Angst, mit wem er zuletzt gesprochen hat, wer etwas weiß, zu wem er ging — nein, die Unsicherheit ist nicht nur das Schicksal der Mütter, und die Arbeit auf eigene Faust hat auch Nachteile. Wenn der Alarm falsch ist — vielleicht ist seine Straßenbahn nicht gefahren oder er ist krank — schicken wir ihn auf ein Bier zum Marienbild. Doktor Husták wurde im Januar zweiundvierzig nach Auschwitz gebracht. Zum Glück kehrte er zurück und sprach weiter begeistert und lange über Komenský (Jan Amos Comenius, berühmter tschechischer Theologe, Pädagoge und Schriftsteller aus dem 17. Jahrhundert. Er wird oft als einer der Pioniere moderner Pädagogik betrachtet und hat zahlreiche Schriften zu Bildung und Philosophie verfasst), schwieg jedoch beharrlich über Unaussprechliches.“

Schinkenfleckeln

(Weil ich gestern und heute an der Übersetzung des folgenden Abschnitts aus Branalds „Severní nádraží“ gearbeitet habe und einer unserer Enkel zu Besuch war, gab es gleich mal die besagten Šunkofleky – ein wirklich leckeres, schnell gemachtes und sehr einfaches Gericht)

Anfang Juli kam mein Vater. Er schaute sich die Wohnung an und sagte: Als wir mit meinem Freund Zakopal in Klatovy waren, haben wir auch im Bahnhof gewohnt.

Das hieß, dass es ihm bei mir gefiel. Ich überließ ihm das hintere Zimmer, wo er zwischen den an die Wand geklebten Mädchen schlief, die ich aus der Illustrierten „Ahoi“ ausgeschnitten hatte. Er konnte morgens so lange liegenbleiben, wie er wollte. Abends gingen wir in den „Rudolf“ zum Skat und blieben so lange, bis wir keine Lust mehr hatten. Zu Mittag aßen wir jeden Tag etwas anderes und anderswo zu Mittag, im Bahnhofsrestaurant, beim Bahnhofsvorsteher und auch beim Lehrer. Oder wir fuhren zu anderen Bahnhöfen oder kochten selbst. Unsere Socken wuschen wir im Waschbecken und trockneten sie auf einer durch die Küche gespannten Leine. Wir lebten auf dem Bahnhof Klatovy, ich war Vaters Kumpel Zakopal, und wir waren beide dreiundzwanzig Jahre alt.

Am Vorabend der Verbrennung des Magisters Jan Hus entzündeten wir an der Laderampe ein Lagerfeuer. Ringsherum standen Eisenbahner, Zollbeamte, der Lehrer, der Polizist, Kinder und Frauen. Mein Vater hielt eine Rede, was zu dieser Zeit sehr wichtig war. Anschließend sangen wir die tschechische Nationalhymne. Dann war nur noch zu hören, wie das Holz knisterte. Wir schauten ins langsam erlöschende Feuer, die hölzerne Pyramide brach langsam zusammen und jeder von uns dachte wohl über seine Zukunft nach. Manche hatten dann Kinder, andere wiederum nicht, hätten sie aber gern. Wieder andere träumten von einer glücklichen Ehe oder bauten sich ein Haus.

Alle waren hier verwurzelt und hatten hier ihre Freunde. Manch einer plante, von hier weggehen, andere wollten lieber bleiben. So waren wir alle in Gedanken, als das Feuer langsam ausging. Das glühende Holz wurde nach und nach schwarz. Der dichte Rauch war angenehm warm und roch aromatisch. Er stieg nicht nach oben, war bodenständig wie Moldava. Nach und nach rückten wir näher ans Feuer und standen schweigend drum herum. Obwohl keiner etwas sagte, blieben alle hier. Erst als der nächste Zug kam, mussten die Eisenbahner ihre Arbeit machen und lösten so die friedliche Stille auf. 

Am nächsten Tag präsentierte Herr Hulík meinem Vater Zeitzeugnisse aus dem Goldenen Prag, Jahrgang 1912, und meinte, dass es eigentlich gar nicht so lang her gewesen und dass es eine schöne Lektüre sei. Auch andere freuten sich, dass mein Vater gekommen war. Nicht, weil er als Schauspieler bekannt war sondern wegen seiner menschlichen Eigenschaften. Frau Pircová vom Zoll lud uns gleich zum Mittagessen ein – es würde Schinkenfleckeln geben. Bei diesem Mittagessen verriet mein Vater, dass Schinkenfleckeln unser Lieblingsessen ist. Prompt wurden wir an den nächsten Tagen von der Frau Vorsteherin, Frau Hlaváčová, der Dykastová, der Sperlová und der Lehrerin zu Schinkenfleckeln eingeladen. Das störte uns aber nicht wirklich, weil wir sie ja wirklich gern aßen. Am besten, fanden wir, machte sie die Frau Vorsteherin – mit Zitrone, locker und goldbraun gebacken. Vielleicht klingt es komisch, aber mein Vater erinnerte sich gerne an dieses Schinkenfleckeln-Festival – ihm ging es nicht allein um das Essen, sondern vor allem um die nette Geste.

Ich erinnere mich auch daran, wie mein Vater einmal nachmittags für mich Kaffee kochte als ich Dienst hatte. Er stand oben am Fenster mit einer Kaffeetasse in der Hand und gestikulierte, ich solle zum zum Kaffeetrinken herauf kommen. Ich hatte allerdings zu dieser Zeit immer sehr viel zu tun und winkte ab. 

Er aber ließ nicht locker – seine Gesten und die Mimik wurden immer aufgeregter. Die Leute, die in den Zug eingestiegen waren, kriegten das mit und machten sich lustig über den alten Herrn, der von oben rief: „Der Kaffee wird dir gut tun.“ Ich aber schämte mich, was mir bis heute noch leid tut. 

Nicht weil mein Vater meine Arbeit nicht achtete. Er entwickelte sogar in wenigen Tagen ein beachtliches Verständnis dafür. Das konnte aber auch nicht anders sein, denn er lebte mit uns unser Leben nach Fahrplan, genauso wie in seinem Theater das Leben nach eigenen Regeln abläuft. Der erste Morgenzug war für ihn die Ouvertüre, die Verkehrsstoßzeiten unterteilten die Handlung in einzelne Akte, dazwischen wurde gespielt, markiert und hier und da improvisiert. Schlussakt waren Rauch und Feuerschein des letzten ausfahrenden Zuges.

Vater stand oben am Fenster – mal sichtbar, mal unsichtbar – und er verstand die Technik und Abläufe des Bahnhofs nicht im Entferntesten. Aber er war ein begnadeter Regisseur und beobachtete sogar aufmerksam, wie unser Holzstapel einstürzte. Und er freute sich, wenn der grenzüberschreitende Zug pünktlich abfuhr. Auch später, als er längst wieder zu Hause war, sah ich ihn noch immer am Fenster stehen und versuchen, Regie wie Reinhardt zu führen (Max Reinhardt, österr. Theaterregisseur)

„Ich bin im Leben genug herumgeirrt, und jetzt bevorzuge ich es, drin zu bleiben,“ sagte Vater, als ich ihn einmal zu einem Spaziergang einlud. Aber der Wald gefiel ihm, und er sammelte Pilze, um sie für Mama zu trocknen. 

Als wir einmal über die Bendlovka-Baude zum Gipfel des Stürmers wanderten, hatten wir ein Notizbuch dabei, und bis wir oben angelangt waren, hatten wir bereits 2 Akte eines neuen Theaterstückes verfasst. Als später die Komödie fertig war, sagte ich zum Vater: „Siehst du, du bist nicht umsonst hierher gekommen.“ „Ich bin nicht deswegen gekommen,“ wehrte er ab, „und ich wäre sehr unglücklich, wenn du das denken würdest.“

Ein anderes Mal sagte er: „Es wird viel über Krieg gesprochen. Ich glaube es zwar nicht, aber du solltest runtergehen. Deine Mutter vermisst Dich.“ Ich verstand, was er für sich und mich plante.

Als er wieder nach Hause fuhr, winkte ihm die ganze Station hinterher. 

Eierdieb

Heute kam sie mit der Post: die Broschüre des Schreibfestivals 2023 „gemeinsam. einzigartig“. Angeregt durch den erst 2023 gegründeten Pirna schreibt e.V. hatte ich im September zum ersten Mal teilgenommen und den Workshop „Kurzgeschichten“ gewählt. Zwei tolle Wochenenden in kreativer Runde unter sachkundiger Anleitung von Anni Lux und Carl-Christian Elze folgten.

Zum eher unangenehmen Rahmenprogramm „Parken in Pirna“ schrieb ich bereits unter heidedix.wordpress.com/2023/09/25/pirna-schreibt-aber-wo-parkt-pirna/

Heute aber möchte ich euch meine in obiger Broschüre veröffentlichte Kurzgeschichte auch hier präsentieren:

Eierdieb

Ein kleines Mädchen strolcht über den Bauernhof, auf dem es mit seinen Eltern zur Untermiete wohnt. Es ist zwei Jahre alt und trägt ein Leibchen mit angeknöpften Wollstrümpfen, ein Röckchen,  Strickpullover und eine karierte Schürze mit zwei kleinen Taschen. 

Ein paar Hühner staksen eine Leiter hinauf und gehen mit leicht gesenkten Köpfchen durch das kleine, viereckige Loch in ihren Stall. „Wo gehen die denn hin?“, denkt das Mädchen. Kurzerhand folgt es ihnen und zwängt sich durch das Loch ins Innere des Hühnerstalls. Dunkelheit empfängt es. Und Gestank. Vorsichtig stützt sich das Mädchen auf dem Boden ab, um von den Knien in den Stand zu kommen. Das linke Händchen landet in etwas Weichem und zuckt schnell zurück. Was war das? Die Augen haben sich noch immer nicht an die Dunkelheit gewöhnt. So bleibt nichts anderes, als das komische Zeugs an die frisch gewaschene Schürze zu schmieren. Mutter wird wieder traurig sein und bestimmt schimpfen. 

Noch einmal versucht sie aufzustehen. Diesmal ohne abzustützen. Das ist gar nicht so einfach. Aber es gelingt. Jetzt ist es sogar etwas heller. Langsam lassen sich einige Kisten und Stangen erkennen. Alle kunterbunt gescheckt und beschmiert. Dazwischen viel Stroh. Das kennt sie. Der Bauer hatte es vor einigen Tagen vom Pferdewagen geladen und in die Scheune gebracht. Ganz oben ist sogar ein kleines Fenster. Ein schmaler Sonnenstrahl schafft es durch die Scheibe ins Innere des dunklen Raumes, obwohl sie dreckig und voller Spinnweben ist. Überall schweben kleine Staubteilchen im Lichtstrahl. Lustig sieht das aus. Am liebsten würde sie sie einfangen. Die Kleine hopst im Stall herum, greift immer wieder in das Licht und freut sich daran, wie die Stäubchen nun anfangen zu tanzen. Ein herrliches Spiel. Vergessen der Gestank und vergessen die schmutzige Schürze.

Plötzlich bleibt sie stehen. Erstarrt. Genau da, wo der Sonnenstrahl endet, leuchten zwei winzige Kreise. Bewegen sich nicht. Leuchten. Machen Angst. 

Langsam wird hinter den Kreisen der Umriss einer Henne erkennbar. Aus den Kreisen werden Augen, mit denen die Henne das Geschehen beobachtet. Regungslos. Sehr aufmerksam. Angsteinflößend. Was tun? Das kleine Mädchen und die Henne. Beide unbeweglich. Starr. Still.

Dann lautes Gackern im Rücken des Kindes, das vor Schreck herumfährt. Eine zweite Henne hat ein Ei gelegt, tut stolz ihre Leistung kund, flattert vom Nest und stolziert auf das kleine Viereck zu, durch das die Hühner und das Mädchen hereingekommen sind. 

In der Kiste, aus dem das Huhn geflattert kam, ist ein kleiner weißer ovaler Fleck geblieben. Das Mädchen tastet sich hin. Tapfer und Stück für Stück über klebrige Häufchen unter den Schuhen. Ein Ei ist es, was da liegt. Die Mutter braucht Eier zum Backen. Manchmal kocht sie welche zum Frühstück. Welche Freude, wenn ich eins mitbringe. Meine rechte Schürzentasche ist gerade groß genug. 

Im Nest daneben liegen noch zwei Eier. Eins wandert in die linke Schürzentasche, das andere hält das kleine Händchen fest. Oh, wie werden sich die Eltern freuen. Wieder Erschrecken. Die Henne mit den glotzenden Augen erhebt ein ohrenbetäubendes Gackern und flattert zum Ausgang. Die Stäubchen im Sonnenstrahl jagen aufgeregt hin und her. Ihr Ei kommt in die zweite Hand. Es ist noch schön warm.

Jetzt ist sie ganz allein im Dunkeln. Etwas Licht nur vom Sonnenstrahl und der kleinen Öffnung am Boden. Hier geht es auch wieder hinaus. Zur Mutter, zum Vater, zu den Bauersleuten. In die Sonne.

Das kleine Mädchen kniet sich mit ihren sauberen Wollstrümpfen in die Hühnerkacke und kriecht durchs Hühnerloch nach draußen. Endlich hell. Endlich Sonne. Endlich Hof.

Auf dem Hof steht die Mutter, die verzweifelt nach ihrem Kind sucht. Von oben bis unten voller Hühnerdreck und zwei zermatschte Eier in den schmutzigen kleinen Händen rennt das Mädchen überglücklich zu ihr hin und drückt sich an sie. „Was hast du gemacht?“, schreit die Mutter das erschrockene Mädchen an und haut ihr zweimal auf den Hintern. Tränen kullern über das Gesichtchen. „Du wirst dich jetzt ganz schnell entschuldigen!“. Sie ergreift mit hartem Griff einen Unterarm und zerrt die Kleine zum Haus des Bauern. 

Bevor sie dort ankommen, öffnet sich die Haustür, und die rundliche Bäuerin tritt heraus.  In ihrem sonnengegerbten Gesicht steht die Frage, was hier gerade passiert auf ihrem Hof. Sieht das verzweifelte Mädchen mit den schlierigen Eierschalen in den Händen, die wütende Mutter und reimt sich den Rest zusammen. Und sieht die Wölbung in einer der karierten Schürzentaschen. Vorsichtig zieht sie ein völlig intaktes Ei heraus.

Das legt sie in eines der kleinen Händchen. Dann streicht sie dem Kind liebevoll übers Haar: „Komm, ich geb dir noch zwei dazu – dann gibt es morgen zum Frühstück für jeden ein frisches Ei.“ 

Nordbahnhof

Wieder ist ein kleiner Meilenstein bei der Übersetzung des Abschnittes „Severní nádraží“ („Nordbahnhof“) aus „Valčík z Lohengrina“ geschafft. Der geniale Schriftsteller Adolf Branald – Schauspielersohn und Fahrdienstleiter am Bahnhof Moldau im bewegten Jahr 1938 – schreibt in „Nordbahnhof“ über genau diese Zeit. Hier lest ihr, wie Branald nach Moldau (heute Moldava) kam.

„…….es ist nun einmal so: wer bei der Eisenbahn überleben will, muss sich damit abfinden, dass das, was oben entschieden wird, von einem einfachen Angestellten nicht geändert werden kann. Daher war ich nicht so begeistert, als der Kurs zu Ende ging und wir angewiesen wurden, uns Bahnuniformen nähen zu lassen. Nach den Abschlussprüfungen würden wir dann für den eigenständigen Verkehrsdienst auf verschiedenen Stationen eingeteilt werden.

Ich habe schon einmal eine Uniform nähen lassen – für den Militärdienst. Ich habe mir auch schon einmal einen Hut gekauft. Diesmal mussten es zwei sein, ein roter und ein schwarzer. Die Militäruniform hatte mein Uniformschneider, Herr Rychly aus Vršovice genäht. Von ihm ließ ich sie nun einfach umfärben und anpassen. Diese Aktion war eine der mutigsten in meinem Leben, aber ich war damit nicht allein. Dreißig ungeduldige und risikobereite Kollegen ließen sich eine dunkelblaue Jacke mit roten Samtpaspeln schneidern, ohne sicher zu sein, ob sie dieses Prachtstück jemals tragen, geschweige denn dafür bezahlen würden. Die Anwärter, die während ihres Dienstes eine Uniform tragen müssen, erhalten einen einmaligen Betrag von 1.200 Kronen, der ihnen aber erst nach erfolgreicher Verkehrsprüfung und Ausstellung des Autorisierungs-dekretes ausgezahlt wird.

Bevor ich vor dem Prüfungsausschuss erschien, klopfte ich an die Tür des Gruppenleiters für persönliche Angelegenheiten.

Ich hatte gehört, dass er Geige spielt und ein Gespür für Kunst hat. Ich gestand ihm, dass auch ich Künstler bin und hoffte, bei ihm Verständnis für mein kreatives Problem zu finden. „Ich komponiere Musik zu den Texten meines Vaters“ – „Opern?“, fragte er spöttisch. „Kleinere Opern“, sagte ich bescheiden: „Operetten. Das verbindet mich mit ihnen. Herr Gruppenleiter weiß sicherlich, dass es nicht möglich ist, aus der Ferne zu komponieren. In Prag habe ich ein Klavier und eine Umgebung sowie Kontakte. Ich wäre Herrn Gruppenleiter einfach äußerst dankbar, wenn ich einer Station in der Nähe von Prag zugewiesen werden könnte. Řeporyje zum Beispiel.“ „Řeporyje ist besetzt,“ sagte er, „Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde alles für den Herrn Künstler tun. Es darf jedoch nicht zu Lasten des Transportdienstes gehen.“

Ich versicherte ihm, dass das  Gegenteil der Fall sei.  Musik regt den Geist an und beim Komponieren kommt der erschöpfte Fahrdienstleiter auf andere Gedanken und tritt dann erfrischt seinen Dienst an. 

„Das stimmt“, sprach er anerkennend. „Sie sollten den Eisenbahnermarsch komponieren.“ „Das werde ich tun,“ versprach ich, und er reichte mir die Hand. Ich erlaubte mir, sie als Zeichen der Dankbarkeit zu schütteln und war mir nun meiner Sache sicher.

Nach erfolgreich abgelegten Verkehrsprüfungen standen wir zum letzten Mal in Haltung vor dem Schnitt der zweizylindrigen Westinghouse-Frachtbremse und der Seitenansicht des Einfahrtsignals in der Freigabeposition.

Der Gruppenleiter stand eine Stufe höher, malerisch von einem Professorenkollegium umgeben, und las uns die Stationen vor, denen wir zugeteilt waren. Als ich dran war war, las er Moldau im Erzgebirge vor. Das war so weit, wie er mich nur schicken konnte, denn es handelte sich um eine Grenzstation, durch die ein einziger Weg zum Bahnhof führte. In der Hoffnung, dass es vielleicht ein Zurück gab, ging ich wieder zum Gruppenleiter und bat um Erklärungen. „Dummkopf“, sagte er bedauernd, „Wohin kann ich einen so ausgezeichneten Fahrdienstleiter sonst schicken? Moldau ist eine Verkehrsdienststelle, wussten Sie das nicht?“ Als ich immer noch nicht verstehen wollte, senkte er die Stimme und versuchte, mich zu beruhigen: „Sie werden dort nur ein paar Tage sein. Prag kann nur ein Fahrdienstleiter mit Erfahrung im Verkehrsbüro bekommen. Verstehen sie? Ich wünsche Ihnen viel Glück.“

Ich vertraute ihm. Ein Verkehrsbüro war wirklich etwas Besonderes und unterschied sich von einem gewöhnlichen Bahnhofsbüro wie die Kostümkammer von der Nationaloper. Es erwarteten mich beispielsweise Ruhm und Reisen, das Zusammenstellen von Zügen, das Berechnen des Bremsgewichts und anstelle eines Verkehrsprotokolls das Führen eines Verkehrstagebuchs. Ich weiß, das sagt Ihnen nichts, aber für einen angehenden Fahrdienstleiter ist diese Tätigkeit viel mehr wert – genau wie für einen angehenden Schauspieler der Romeo oder für einen angehenden Fahrzeugöl-Vertreter die Großgarage Flóra. 

Ich hatte keine Zweifel an der vorübergehenden Natur meiner Mission. Ich zog meine Uniform an, packte meinen Schlafanzug in den Koffer, setzte meine rote Mütze auf, legte eine Zahnbürste und die Verkehrsordnung Nummer neunzehn dazu (sicher ist sicher) und fuhr in Richtung Loun, Louka – Horní Litvínov. Von dort aus ging es ungefähr nord-nordwestlich ins Unbekannte. Der Zug fuhr verdächtig lange und mit dem sich senkenden Zwielicht kam eine mir vertraute Wehmut über mich. Nach dem Bahnhof Dubí, der im Eisenbahn-Atlas als Kuriosum zitiert wurde, weil er ein Spitzkehrenbahnhof ist, begann eine der schönsten Steigungen in Böhmen. Der Zug, kurz, leer, von Göttern und Menschen verlassen, tauchte resigniert in dichte Wälder, Berge und Hänge ein. Ich stand in einem leeren Abteil, starrte aus dem Fenster und überlegte, ob es wirklich zu dem kommen würde, was über diese Gegend erzählt wurde. Nämlich, dass die Begleiter am vierzehnten Kilometer während der Fahrt abspringen, einerseits um dem Zug Erleichterung zu verschaffen, andererseits um die lange Zeit zu vertreiben und – den Zug begleitend – mit gemächlichem Schritt Pilze zu sammeln. Ich sah nichts, denn es war so stockdunkel geworden, dass ich sogar den Tunnel verpasste. Der Lokführer mit seinem Begleiter saß im Führerstand und einer ermutigte den anderen: Was werden wir oben machen? Na, wir trinken ein Bier und fahren wieder runter.

Der Zug kämpfte sich hinauf auf das Hochplateau, orangefarbene Lichter am Boden tauchten auf und vermeldeten freie Einfahrt. Erstaunlicherweise gab es mehr davon, als ich erwartet hatte, woraus ich auf die Weitläufigkeit der Gleise schließen konnte. Wir hielten an. Der Schaffner stieg aus dem Dienstwagen, rief „Moldau!“ und verschwand. Anstelle in den Wald zu gehen, stieg ich auf den menschenleeren Bahnsteig – überdacht und lang wie der in Vršovice. Ich stand dort alleine, über mir leuchteten wunderschöne runde Uhren, Zeichen des Verkehrsamtes. Der Ausgang war weit offen, niemand stand dort, niemand durchschritt die Tore, irgendwo dahinter war der Wald, Wölfe und Dunkelheit. Das gleichmäßige Stampfen einer müden Maschine war zu hören. Auch die Türen des Verkehrsbüros standen offen. Die Nacht war warm, ohne Sterne und voller Stille. Ich hörte das vertraute Klopfen des Telegrafen, jemand kam aus dem Büro, sah mich, blieb stehen, schaute eine Weile, als wollte er seinen Augen nicht trauen, drehte sich um und rief erleichtert und freudig in die offenen Türen: „Er ist angekommen!“ Dann kam er zu mir, reichte mir die Hand und sagte: „Wir sind seit einer Woche nur noch zu zweit. Am Donnerstag haben sie uns jemanden hierher geschickt, der ist im Zug sitzen geblieben und hat gewartet, dass er zurückfährt. Idiot. Er war klein, untersetzt und aus seinem freundlichen Gesicht strahlte Aufrichtigkeit. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und sagte vorsichtig: „Ich nur vorübergehend hier. Sie erwarten mich unten.“

Aber er, der Bahnhofsvorsteher, führte mich hinein und sagte unterwegs mit beruhigender Stimme: ‚Hier wird es dir gefallen, du wirst sehen!‘ Wir stiegen breite Treppen in das obere Stockwerk des Bahnhofsgebäudes hinauf, es kamen immer mehr Menschen, die meine Hand schüttelten, auf meine Schultern klopften und genau wie der Vorsteher versicherten: „Du wirst es hier mögen, warte es ab!“ – als hätten sie Angst, dass ich mich umdrehe, zurück zum Zug gehe und nie mehr wiederkomme. Ich ging einen langen Flur entlang, beunruhigend eng wie in einer Kaserne, vorbei an Türen mit weißen Porzellanschildern, auf denen die Namen der Bewohner standen. An zwei  Türen ohne Schilder hielten wir an, der Bahnhofsvorsteher entriegelte sie, schaltete das Licht ein, trat beiseite und ließ mich eintreten. Die anderen betraten ebenfalls das Zimmer, um Zeuge zu sein von dem, was ich tun und sagen würde. Wahrscheinlich wussten sie, dass es nicht gut ist, dabei allein zu sein. Später verstand ich, dass viele Momente unten im Tal belanglos und bedeutungslos, hier oben aber gemeinsam und feierlich sind, besonders solche, die an etwas erinnern. Dieser Moment, dessen Atmosphäre ich wohl vergeblich zu beschreiben versuchen werde, gehörte zu diesen feierlichen. Er erinnerte sie an ihre eigenen Ankünfte und ihre damalige Provisorität. Sie wussten, wie es mir ging, und versuchten, mir den Eintritt in die Wohnung, die wahrscheinlich der Eingang zu einer langjährigen Nachbarschaft war, zu erleichtern. (Die Gründer und Erbauer der Grenzbahnhof-Festung waren davon ausgegangen, dass das Leben in einem einzigen Raum hier oben dauerhaft unmöglich ist. Sie rechneten mit größeren Familien, bedachten auch die langen Winterabende und legten als Lebensminimum eine Küche und drei Zimmer fest.) Als meine Begleiter meine Verwirrung angesichts der ausgedehnten Räume und des kleinen Koffers, den ich immer noch in der Hand hielt, bemerkten, versicherten sie mir fröhlich, dass sie mich einrichten würden, bevor ich überhaupt ein Wort sagen könne – und ehe ich mich versah, schleppten sie aus der Schlafwagenunterkunft der Eisenbahner ein ausklappbares Eisenbett, einen Strohsack und Bettzeug herbei und wählten als Schlafzimmer den am weitesten entfernten Raum aus. Zwei andere brachten in der Zwischenzeit aus dem Wartesaal der dritten Klasse einen langen Kleiderständer mit vierundzwanzig Haken, stellten ihn in das Zimmer nebenan und ermutigten mich, endlich abzulegen – schließlich sei ich ja zu Hause. An den ersten Nagel hängte ich meinen Mantel, auf den letzten meine Mütze; sie lachten, und ich war wirklich zu Hause.  Im dritten Raum, diskret in die Ecke, wo auch Eichhörnchen nicht hinsehen konnten, platzierten sie einen Hocker, legten ein blaues Blechwaschbecken darauf, stellten eine Kanne ins Waschbecken und nannten diesen Ort humorvoll „Badezimmer“. In der Küche stand ein großer Kachelherd für eine mehrköpfige Familie. Es wird nicht lange kalt sein, versicherte die Frau Vorsteherin, strich mit der Hand über den Knopf der Ofenklappe und lächelte: „Bis sie jemanden mit nach Hause bringen, können Sie zu uns zum Baden kommen.““

Suche nach Kalkofen (Teil 15)

Heute will ich nicht suchen, sondern Gefundenes bewahren! Und zwar all das, was ich auf dem idyllischen Fleckchen Erde, auf dem einst das sudetendeutsche Dörflein Kalkofen (Vapenice) stand, gefunden und unzähligen interessierten Wanderern gezeigt habe.

Warum bange ich um ein paar Mauerreste und andere Zeugnisse einstiger Besiedelung inmitten des tiefen tschechischen Waldes?

Ganz einfach, ich habe gestern erfahren, dass auch auf der anderen Seite der deutsch-tschechischen Grenze an 5 Stellen in und um Vapenice nach Bodenschätze gebohrt werden soll. Allerdings nicht nach Lithium wie auf unserer Seite sondern Wolfram oder so…..

Zwar hätte wohl der Moldavaer Gemeinderat die Voranfrage des interessierten Unternehmens abgelehnt, aber das muss ja noch lange nichts bedeuten!

Ganz sicher gibt es nichts auf der Welt, das die Erkundung und Förderung von Erzen aufhalten kann. Ich meine jedoch, dass in einer geschichtlich so sensiblen Region ausser Natur- und Gewässerschutz auch beachtet werden sollte, dass da Zeugnisse des Lebens unserer Vorfahren existieren, die nicht so einfach wirtschaftlichen Zwecken zum Opfer fallen sollten. Wenn auch aus Unkenntnis……..

Wie wichtig es ist, dass Akteure in Vapenice von diesen Überresten Kenntnis haben, zeigt der Vorfall vor zwei Jahren, als ein Harvester den kunstvoll aus riesigen Natursteinen geschichteten Überlauf eines Mühlteiches völlig zerstört hat. Dem Fahrer kann man ganz sicher keinen Vorwurf machen – er hat einfach nicht wissen können, was für ein Bauwerk das ist, in dem er hinaufgefahren ist.

Pirna-schreibt, aber wo parkt Pirna?

Eine super Idee – ein Schreibfestival in der bezaubernden Kleinstadt Pirna. 2023 nun schon zum zweiten Mal und mit viel Engagement organisiert vom neugegründeten Pirna schreibt e.V.. Als ich davon erfuhr, meldete ich mich sofort für den Workshop „Kurzgeschichten“ an und freute mich auf Gleichgesinnte und fachkundige Anleitung.

Da wusste ich allerdings noch nicht, wie schwierig es ist, in Pirna zu parken. Dummerweise hatte ich nicht den Vorzug wie die Dresdner oder Pirnaer Teilnehmer, mit Rad oder Öffi anreisen zu können. Vom entfernten und abgehängten Rehefeld aus gehts nunmal nur per Auto. Jedenfalls für mich, die ich nicht mehr zu den Jüngsten zähle.

So habe ich folgendes erleben dürfen:

Tag 1 (Samstag vormittag): Zum Glück komme ich zu spät zum Workshop-Beginn, sodass die lt. Parkautomat erlaubten 2 Stunden ausreichen würden. Aber ich habe leider keine Münzen dabei. Irgendwann finde ich einen Passanten, der aushelfen und wechseln kann. Ich verliere weitere 15 Minuten. Verwundert laufe ich auf dem Weg zum Workshop an vielen freien Parkflächen vorbei, auf denen nur Anwohner parken dürfen. Bin ich leider nicht. Bei uns auf dem Dorf sorgt sich niemand darum, wo wir unsere Autos abstellen. Städter sind halt doch irgendwie anders.

Tag 2 (Sonntag vormittag): Auf dem einzigen Parkstreifen in der Nähe des Veranstaltungsortes (Uniwerk), auf dem man 2 Stunden kostenlos parken darf, erwische ich gerade noch den letzten freien Platz. Der, dem ich diesen wegschnappe, ist unser Workshop-Leiter. Nach der Mittagszeit muss ich noch zweimal an der Parkuhr drehen. Wir arbeiten bis 19:00 Uhr an unseren Texten.

Tag 3 (Freitag, 17:00Uhr): Die wenigen Stundenparkplätze sind komplett belegt. Ich fahre die Dr.-Wilhelm-Külz-Str. hinunter und freue mich, dass ich da noch einen Platz erwische. Klugerweise habe ich heute einige Münzen für die Parkuhr eingepackt. Das aber wäre nicht nötig gewesen. Unser Workshop geht heute bis 20:00 Uhr. Man darf hier allerdings nur 2 Stunden parken. Also gebe ich meinen Platz wieder auf und drehe die Runde nochmal. Hinter der Pirnaer Tafel finde ich endlich einen riesengroßen Parkplatz mit viel Platz. Ohne große Mühe kann ich sogar auf einem Schattenplatz einparken. Etwas verwundert allerdings, warum keiner so schlau ist wie ich und sein Auto auch hier abstellt. Auf dem Bürgersteig treffe ich einen jungen Vater mit Kinderwagen und frage vorsichtshalber, ob er auch der Meinung ist, dass ich hier stehenbleiben könnte. „Naja,“ sagt der, „mit etwas Glück schon. Aber sie sollten wissen, dass das der Parkplatz vom Polizeirevier ist!“ Also erneut ausparken, weitersuchen. Ich werde wieder zu spät kommen! Vorn an der B 172 ist ein Netto, der hat noch geöffnet…. Auf dem Weg dahin, komme ich am Frauenhaus vorbei und überlege ernsthaft, ob ich dort um einen Parkplatz bitten sollte. Schließlich habe ich vor fast 30 Jahren mal für einige Wochen hier gelebt! Nee, ich mach lieber Netto! Allerdings nehme ich jetzt in Kauf, dass ich 30,-€ Strafe bezahlen muss, denn ich darf hier nur 1 Stunde parken. Die AGBs, die man vor dem Parken erst lesen soll, spare ich mir. Auf dem Weg zum Uniwerk komme ich an vielen leeren Firmenparkplätzen (Apotheke, Sanitätshaus, Physiotherapie, Arztpraxen) vorbei. Schade drum!

Tag 4 (Samstag, kurz nach Mittag): Der kostenlose 2-Stunden-Parkstreifen ist wieder besetzt. Auf den Netto-Parkplatz traue ich mich nicht schon wieder. Zu froh war ich gestern Abend, dass ich weder Strafe bezahlen musste noch dass die Schranke am Eingang geschlossen war. Man soll das Glück nicht herausfordern. So entdecke ich auf dem Navy, dass man Parkplätze suchen lassen kann und finde das Parkhaus Stadtmitte. 800 m von da bis Uniwerk. Wieder komme ich zu spät. Am Abend bezahle ich 6,-€. Warum meckern eigentlich viele Städter, wenn sie im Winter zu uns hinauf ins Gebirge auf die mühsam, aber gut geräumten Parkplätze kommen und dafür max. 3-5 € zahlen müssen? Na gut, immerhin kann ich hier mit Karte zahlen!

Tag 5 (Sonntag, Pirna-schreibt-Festivaltag, 11:00 Uhr): 2-Stunden-Parkstreifen belegt. Netto-Parkplatz leer. Bis auf mein Auto, das ich abstelle, um endlich mal pünktlich zu sein. Tagsüber wird man vielleicht die Schranke nicht schließen. Die Polizei ist ja wohl eher mit Flüchtlingen beschäftigt als sich um Autos auf leeren Parkplätzen zu kümmern. Das ungute Gefühl bleibt. Nach der Generalprobe fürs nachmittägliche Vorlesen eile ich zum Auto. Es steht einsam auf dem riesigen leeren Platz. Einsteigen und zum Parkhaus Stadtmitte fahren ist nun fast schon Routine. 800 m zurück zum Uniwerk auch. Gerade rechtzeitig komme ich an. Ich lese als zweite und freue mich über den Beifall. Das wars. Mehr Pirna brauche ich erstmal nicht.

Bestimmt aber im nächsten Jahr. Ich würde gern ganz entspannt durch die hübsche Stadt laufen und an verschiedenen Lesungen teilnehmen. Bestimmt dann auch mit meinem Mann und guten Freunden. Bestimmt habe ich dann auch mein Park-Trauma von diesem Jahr verarbeitet. Oder es gibt vielleicht gar ein besseres Park-Konzept?

Hoffnung fürs Jagdschloss Rehefeld

Vor fünf Jahren habe ich voller Verzweiflung einen Beitrag unter heidedix.wordpress.com/2018/03/08/licht-oder-schatten-fuer-das-jagdschloss-rehefeld/ geschrieben und gehofft, dass häufiges Teilen einen Investor auf die Bildfläche ruft, der das wunderschöne und geschichtsträchtige Jagdschloss Rehefeld wieder mit Leben erfüllt.

Der bisherige Besitzer hatte das Schloss vor über 10 Jahren für 40 T€ gekauft und einfach NICHTS daran getan, als ab und zu mal eingeschlagene Fenster neu zu vernageln und dergleichen. In diesem Frühjahr nun entschloß er sich endlich, die Immobilie versteigern zu lassen, was ihm immerhin 106 T€ Verkaufserlös bescherte. Wem fallen in diesem Zusammenhang nicht solche Stichwörter wie „Spekulationsfrist“ ein? Mir schon!

Den neuen Eigentümer, Herrn Prof. Janisch, durfte ich vor 3 Wochen kennenlernen. Ich fragte ihn natürlich, ob er sich den vielen Jagdschloss-Liebhabern aus Nah und Fern vorstellen und seine Pläne erläutern möchte. Er überlegte nur sehr kurz und fand die Idee dann klasse. Innerhalb von 14 Tagen fand dann im Vereinshaus Rehefeld ein Treffen mit ihm und seinem Dresdner Architekten statt, an dem bestimmt 80 oder 90 Rehefelder/Interessenten teilnahmen.

Ich selbst mag nicht in der Haut des 72Jährigen vom Plöner See gesteckt haben, denn was sollte er uns schon erzählen? So schilderte er erstmal seine Aktivitäten, mit denen er einen denkmalsgeschützten Bahnhof bei Göttingen wieder zum Leben erweckt hat. Was zwar recht interessant war, aber die Anwesenden wollten ja eigentlich ganz andere Dinge hören.

So spann der neue Jagdschloss-Besitzer bald den Bogen und legte dar, was aus seiner Sicht schon ganz fest steht: Das sog. Herrenhaus wird als erstes rekonstruiert und zu Wohnzwecken vermietet.

Was aus dem eigentlichen Schlößchen und seinen Anbauten (Garagen und Saal) wird, hängt weitgehend auch von der Gunst und den Auffassungen der Denkmalsschutzbehörde ab und inwiefern diese sich mit den Vorstellungen des Eigentümers vereinbaren lassen. Warten wir also ab!

Einen recht weisen Satz prägte er allerdings auf die Frage aus dem Zuhörerraum nach dem Umfang der geplanten Kosten: „Man kann so viel Sicherheit reinpacken, dass man zwar im Rahmen bleibt, letztlich aber gar nicht erst anfängt….!“

Die Frage nach einem Nutzungskonzept stellte und beantwortete Herr Janisch gleich selbst: Er wird das Anwesen wieder in Ordnung bringen und der historischen Hülle ein sehr modernes und zeitgemäßes Inneres geben, aber betreiben wird er es nicht. Dafür wird sich ein/e andere/r finden müssen. Was ich persönlich wirklich gut finde, denn bisher gab es schon ganz viele gute Ideen dazu, wie das Jagdschloss wieder mit Leben erfüllt werden kann – alle aber scheiterten daran, dass niemand das Geld hatte, die Gebäude zu restaurieren. Und genau das will ja nun der neue Eigentümer übernehmen!

Man darf gespannt sein! Und hoffen! Und Daumen drücken!

Hilft das?

Heute – am letzten Tag des Jahres 2022 – war das Wetter total entspannt. Genau wie mein Terminkalender. Das macht natürlich Lust. Lust auf Gartenarbeit! Und das selbst mitten im Winter und sogar hier oben, fast auf dem Erzgebirgskamm.

So legte ich also los und sammelte die gerade erst entfrosteten Maulwurfs-Haufen ein. Dankbar, weil die gute Erde die oberste Schicht des geplanten Hochbeetes werden könnte und eben kostenlos zu haben ist.

Wie so oft kamen auch heute Wanderer des Wegs und suchten Gespräch mit den wenigen und seltenen Einwohner-Exemplaren des oberen Weisseritztales. Diese fragten mich: „Hilft das?“

Ich unterbrach meine Arbeit, richtete mich langsam auf und überlegte nebenbei verzweifelt, was sie wohl meinen könnten. Kam aber leider nicht drauf, sodass ich nachfragen musste.

Prompt kam die Antwort: „Na, gegen die Maulwürfe!“

„Oh je,“ dachte ich. Und sprach: „Weiß nicht, aber ich bin froh, dass die das machen. So bekomme ich Erde für mein Hochbeet. Und die ist bestimmt besser, vor allem aber billiger als die vom Baumarkt!“